Interview mit Schriftdesignerin Julia Sysmäläinen

Interview mit Schriftdesignerin Julia Sysmäläinen

Jenny Zegenhagen Veröffentlicht am 5/24/2019

Julia Sysmäläinen, Designerin und Philologin, hat ihre Wurzeln in Finnland und Russland, lebt und arbeitet aber seit vielen Jahren in Berlin. Sie spricht vier Sprachen fließend, verfügt über Erfahrung in Unternehmens- und Schriftdesign und hat über 12 Jahre als Designdirektorin bei Erik Spiekermann Agenturen gearbeitet. 2008 eröffnete sie das „Juliasys Studio“ in Berlin, in dem sie sich mit ihrem Team auf Branding, maßgeschneidertes Schriftendesign und Informationsarchitektur spezialisiert hat.

„Für mich sind Schriftarten nicht einfach nur Werkzeuge, sondern die Visualisierung einer Persönlichkeit“.

Julias Arbeit und ihr faszinierender Hintergrund haben mich schon immer interessiert. Daher habe ich mich sehr gefreut, mit ihr über ihre persönliche Geschichte sprechen zu können und viel über Ihre Arbeit bei der Beiersdorf AG und die Gestaltung von NIVEA Care Type zu erfahren.

Der beeindruckende Hintergrund von JuliaSys

Julia, Sie haben eine sehr interessante Geschichte, können Sie uns etwas mehr über Ihre Wurzeln erzählen?
Mein Vater ist Finne, meine Mutter Russin, und ich bin beides — oder anders gesagt: Ich bin irgendwas dazwischen. Ich fühle mich in beiden Sprachen zuhause, sowohl beim Sprechen als auch beim Lesen, egal, ob ein Text in lateinischer oder in kyrillischer Schrift geschrieben ist. Auch in anderen Aspekten sind meine finnischen und russischen Eigenschaften ziemlich ausgewogen. Ich habe die typisch finnische Abneigung gegen Small Talk und gleichzeitig liebe ich die russische Warmherzigkeit und Geselligkeit.

Außerdem arbeite ich nach dem typischen russischen Prinzip des Ausprobierens und Improvisierens. Ich komme aus der Region Karelia, die teils zu Finnland, teils zu Russland gehört. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich noch ziemlich klein war, und danach bin ich oft hin und her gereist. Das tue ich heute immer noch, aber jetzt verläuft meine Reiseroute im Dreieck: Deutschland – Finnland – Russland. Deutsch und Englisch habe ich erst viel später gelernt und fühle mich diesen beiden Sprachen daher sehr viel weniger verbunden. Allerdings lese ich gern Literatur in allen vier Sprachen, egal, wie gut ich sie spreche – und eigentlich habe ich selten Probleme dabei. Nachdem ich mehr als 12 Jahre bei den verschiedenen Erik Spiekermann Agenturen gearbeitet habe und nun mein eigenes Studio leite, ist es für mich ganz normal, Designfragen auf Deutsch oder Englisch zu besprechen.

Sie sind gelernte Designerin und Philologin – was kam zuerst, und wie haben Sie es geschafft, diese beiden Berufe miteinander zu kombinieren?
Sprachen und Literatur sind mein liebstes Hobby. Ich habe schon immer leidenschaftlich gern gelesen – hauptsächlich finnische und russische Literatur. Später, als ich bereits Literatur studierte, stellte ich fest, dass bei Texten außer dem literarischen Inhalt und der literarischen Form auch die visuelle Form eine Rolle spielt. Was mich am meisten fasziniert, ist, wenn all dies zusammen kommt, zum Beispiel in Manuskripten oder Briefen, alles vom Autor selbst geschrieben. Typografie und Schriftendesign waren für mich die Highlights im Designstudium. Später, nachdem ich nach Berlin gezogen war, um beim United Designers Network zu arbeiten, entdeckte ich die wunderbare Manuskript-Abteilung der Nationalgalerie. Seither liebe ich diesen Ort und er hat mich zum Design von Schriftarten basierend auf handgeschriebenen Artefakten von Schriftstellern und anderen historischen Persönlichkeiten inspiriert.

Sie haben eine ganz spezielle und einzigartige Vorgehensweise bei der Gestaltung Ihrer Schriftarten – können Sie uns diese erklären?

Meine Schriftarten basieren häufig ganz einfach auf solchem Material – handgeschriebenen Artefakten von Schriftstellern und historischen Persönlichkeiten. FF Mister K ist wohl die bekannteste: eine komplette Schriftenfamilie basierend auf Franz Kafkas Manuskripten — mal näher am Original, mal etwas freier gestaltet. Bei der Entwicklung von Emily In White und von ALS FinlandiaScript, eine Schriftart, die ich für das Art Lebedev Studio in Moskau gestaltet habe, ging ich ähnlich vor. Für Erstere war der Ausgangspunkt eine Gedichtreihe von Emily Dickinson, geschrieben auf zusammengenähten Papierstreifen (sie nannte diese „Faszikel“) und für die ALS FinlandiaScript habe ich mich von Briefen des Komponisten Jean Sibelius inspirieren lassen. Auch meine Schriftart ALS SyysScript (Finnisch für „Herbst-Schrift“) hat eine Vorlage — wenn auch keine historische –, und zwar eine sowjetische Postkarte, die meine Tante Katri mir vor vielen Jahren geschickt hatte, um mich zur Pilzsuche einzuladen.

Die Schriftart FF Mister K, in einer Ausstellung
Die Schriftart FF Mister K, in einer Ausstellung

Meine späteren Schriftarten sind zwar nicht mehr direkt mit Personen verknüpft, aber auch sie haben einen persönlichen Charakter und ich sehe sie eigentlich nicht nur als Werkzeug, um Sprache sichtbar zu machen, sondern auch als Visualisierung einer Persönlichkeit. In den letzten Jahren war ich sehr intensiv in die Forschung von Handschriftpsychologen wie dem schwedischen Psychologen Teut Wallner involviert. Aus dem bekannten Begriff „Grafologie“, der im späten 19. Jahrhundert populär wurde, entwickelte sich die Handschriftpsychologie als wissenschaftliche Disziplin, die die Beziehung zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Handschrifteneigenschaften untersucht. Um als wissenschaftlich zu gelten, müssen die Ergebnisse wiederholbar und unabhängig vom Untersuchenden sein.

Julias Schriftart Emily in White basiert auf der Handschrift von Emily Dickinson
Julias Schriftart Emily in White basiert auf der Handschrift von Emily Dickinson

Erzählen Sie mir mehr darüber, wie Sie die Gestaltung eines neuen Designs oder eine Schriftart angehen? Wie unterscheidet sich Ihre Vorgehensweise bei persönlichen Projekten von der bei Kundenprojekten?
Wenn meine Arbeit auf historischem Material basiert, ist für mich als Philologin der Inhalt eines Texts von einem Schriftsteller ebenso wichtig wie das Erscheinungsbild. Wenn der Inhalt und die literarische Qualität mich nicht überzeugen, verwende ich sie nicht als Ausgangspunkt für eine Schriftart. Es steht also immer Forschungsarbeit an: bevor ich mit der gestaltenden Arbeit beginne, und auch während des Designprozesses. Zeit spielt dabei keine Rolle und es kann Jahre dauern, bevor ich eine Schriftart veröffentliche.

Bei Kundenaufträgen gehe ich anders vor: Es gibt ein klares Ziel und einen begrenzten Zeitraum. Ich beginne mit einer Reihe von Versuchen und ersten Designs, die ich dem Kunden relativ schnell vorlege. Es ist besser, die Designs schon im frühen Stadium zu besprechen und die Meinung des Kunden zu hören. Andernfalls kann es sein, dass man viel unnötige Arbeit in das Projekt steckt. Wenn ich mich mit dem Kunden auf einen Stil geeinigt habe, erstelle ich gleichzeitig Entwürfe und mache OpenType-Coding. Anschließend prüfe ich das Erscheinungsbild an Testwörtern.  Wenn es sich um ein mehrsprachiges Projekt handelt, beginne ich in der Regel mit Englisch und bearbeite anschließend die anderen Zeichensätze.

Für die Schriftart Little House dienten die schriftlichen Notizen von Laura Ingalls Wilder zur Inspiration.
Für die Schriftart Little House dienten die schriftlichen Notizen von Laura Ingalls Wilder zur Inspiration.

Ausgewähltes Projekt: die NIVEA Care Type

Wie kam Ihre Zusammenarbeit mit Nivea zustande, wurden Sie direkt kontaktiert?
Beiersdorf hatte an meinen früheren Schriftarten mit starker Persönlichkeit Interesse gezeigt und ich habe ihnen in Hamburg meine Arbeit präsentiert. Die Zusammenarbeit dauert bis heute an und es gibt laufende Projekte. Aus Gründen der Vertraulichkeit kann ich Ihnen hierzu aber nichts Genaueres sagen.

Können Sie mir ein paar grobe Details über die aktuelle Form dieser Schriftart nennen?
Wir arbeiten jetzt bereits seit einiger Zeit für die Marke NIVEA. Die OpenType-Schriftartengruppe, die wir entwickelt haben, nennt sich NIVEA Care Type und versteht sich als imaginäre Handschrift der Markenpersona von NIVEA, der „NIVEA Frau“, die zuvor von der Marke entwickelt wurde. Die Schriftarten werden auf der Produktverpackung und für Marketingmaterial verwendet und haben die Funktion, dem Erscheinungsbild der Marke genau diese Persönlichkeit zu geben.

Aktuell umfassen die lateinische und die kyrillische Care Type insgesamt mehr als 2000 Glyphen (darunter mehr als 1500 Ligaturen) mit Codierung für die automatische kontextabhängige Ersetzung.

Wie sind Sie bei der Gestaltung der imaginären Handschrift für diese Persona vorgegangen?
Vor dem Beginn der tatsächlichen Designarbeit haben wir mehrere Workshops abgehalten, in denen wir Methoden von Handschriftpsychologen verwendeten, um so den Stil der Schriftart zu ermitteln.

Beim ersten Workshop zu Beginn dieses Projekt stellten wir uns zwei zentrale Fragen: Was sind die Persönlichkeitsmerkmale der Persona von NIVEA und wie können diese Eigenschaften in „ihrer“ Handschrift visualisiert werden?

Die Persona lässt sich als authentische, lebendige und dynamische Persönlichkeit beschreiben, weder zögerlich noch fragil. Ihre Grundeinstellung ist positiv, sie ist offen gegenüber anderen Personen und neuen Erfahrungen. Sie ist macht anderen nichts vor, es geht ihr nicht darum, ein bestimmtes Image aufzubauen. All dies wurde von NIVEA vorgegeben. Unsere Aufgabe war es, diese Persönlichkeitsbeschreibung in die Elemente eines Schreibschriftstils zu übersetzen. In einem Workshop verwendeten wir eine Methode namens „Eindruckscharakter“.

Bei diesem Verfahren werden Schreibschriftbeispiele unter Verwendung von 150 zuvor geprüften Ausdrücken, gruppiert in 24 verschiedene semantische Untergruppen, beschrieben. Die Workshop-Gruppe wählt die passendsten Merkmale aus und anschließend werden die Ergebnisse in einem einzigen Protokoll zusammengefasst.

Die ausgewählten Eigenschaften, die die Schriftart ausdrücken sollte, waren:

  • Ausdrücke im Zusammenhang mit Bewegung: energisch, dynamisch, fließend, lebendig
  • Ausdrücke im Zusammenhang mit Klarheit: präzise, ausgeglichen, ordentlich, klar
  • Ausdrücke im Zusammenhang mit Individualität: anspruchsvoll, individuell (Übertreibungen wie distinguiert oder ausgefallen wurden nicht gewählt)
  • Ausdrücke im Zusammenhang mit Willensstärke: standhaft, entschieden, selbstbewusst

  • Die Ausdrücke „warm“ und „leicht“ im Sinne von Nahbarkeit und Umgänglichkeit.

Natürlich ließen diese ausgewählten Eindrucksmerkmale viel Raum für Interpretation. Aber sie dienten dazu, den notwendigen Rahmen für die Entwicklung des Handschriftstils der NIVEA Frau festzulegen.

Die Schrift ist in mehr als 100 Sprachen erhältlich.
Die Schrift ist in mehr als 100 Sprachen erhältlich.

Aktuell wird die NIVEA Care Type in mehr als 100 Sprachen mit lateinischen oder kyrillischen Alphabet verwendet. Unten finden Sie eine Auswahl dieser Sprachen, in der die Care Type derzeit Anwendung findet. Bisher wird meist die normale Schriftstärke verwendet, aber je nach Produktart und Hintergrundeffekten auf Etiketten kommt auch der Fettdruck zum Einsatz. 

Wie würden Sie das endgültige Design zusammenfassen?
Es gibt zwar tausende Schreibschrift-Zeichensätze auf dem Einzelhandelsmarkt, aber mir war von Anfang an klar, dass die Persönlichkeit der NIVEA Frau nur mit einer maßgeschneiderten Schriftart wirklich überzeugend visualisiert werden kann. Neben stilistischen gibt es dafür auch technische Gründe. Verfügbare Schreibschrift-Zeichensätze enthalten selten den kompletten Zeichensatz, der für eine internationale Marke erforderlich ist. Erweiterte kyrillische und griechische Zeichensätze sind fast nie enthalten.

Eine Weiterentwicklung von solch eingeschränkten Schriftarten ist zeitaufwändig und führt in der Regel zu schlechten Kompromissen. Das maßgeschneiderte Gestalten eines Zeichensatzes in kontinuierlicher Zusammenarbeit mit dem Kunden und verbundenen Design-Agenturen hingegen gab mir die Chance, unsere Ergebnisse schon in der Anfangsphase zu testen und zu verbessern. Als besonders positiv habe ich empfunden, dass Beschriftungsentwürfe lange vor der Fertigstellung der Schriftarten in der Praxis zur Anwendung kommen konnten.

NIVEA Care Type auf Produktverpackungen
NIVEA Care Type auf Produktverpackungen
NIVEA Care Type auf Produktverpackungen
NIVEA Care Type auf Produktverpackungen
NIVEA Care Type auf Produktverpackungen
NIVEA Care Type auf Produktverpackungen

Welche Art von Projekten bevorzugen Sie – persönliche Projekte wie „FF Mister K“ oder Kundenaufträge wie der für Nivea?
Ich mache beides gern und häufig sogar zeitgleich. Es ist ein sehr zufriedenstellendes Gefühl, eine maßgeschneiderte Schriftart zu entwickeln, sodass sie genau den Kundenbedürfnissen entspricht. Und es macht Spaß, sie anschließend in Verwendung zu sehen.

Es ist aber fast noch aufregender, und auch immer eine kleine Überraschung, eine seiner Fonts für Endanwender – an der man lange Zeit gearbeitet hat und nicht wusste, ob sie ein Erfolg wird oder nicht – plötzlich irgendwo zu entdecken, wo man sie nicht erwartet hatte, zum Beispiel auf einer Posterreihe in einem Moskauer Museum, auf einer Lebensmittelverpackung in Finnland oder als Beschilderung und Kennzeichnung eines Kunsthandwerkshops in Prag.

Mehr über zeichenbasiertes Schriftartendesign erfahren Sie auf juliasys.com