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Das Geschenkpaket? Es hat seinen Ursprung im fernen Asien
Auf Youtube erfreuen sich Videos vom sogenannten „Unboxing“ immer größerer Beliebtheit. In diesen Filmchen öffnen mit Cuttern bewaffnete Menschen, die im Internet auf Shoppingtour waren, vor der Kamera liebevoll ihre Pakete, um dann den Inhalt zu präsentieren: Smartphones, Spiele, Tablets, Saugroboter. Nur eine der zahlreichen Skurrilitäten, die typisch für die Social Media sind oder doch ein Anzeichen für generellere, wichtigere Trends?
Das Verpacken von Geschenken, sei es in Schachteln oder Papier, hat eine lange Tradition. Es gibt Belege, dass in China – der Wiege der Papierherstellung – bereits während der Song-Dynastie (960–1279) Präsente oder Entlohnungen (auch Geld) in Papier eingeschlagen wurden. In der westlichen Welt hält farbiges Papier als Verpackung von Geschenken erst Anfang des 20. Jahrhunderts Einzug im Handel: Oft werden in diesem Zusammenhang die Gebrüder Hall, die in Kansas City ein Schreibwarengeschäft führten, als „Erfinder“ des Geschenkpapiers genannt.Das Öffnen des Pakets verlängert die Freude darüber, ein Geschenk zu bekommen, hinzu kommen gespannte Erwartung und Neugier auf den Inhalt. Gemäß einer Studie amerikanischer Psychologen aus den 1990er-Jahren weiß der Empfänger ein Geschenk, das in Papier eingepackt ist, weitaus mehr zu schätzen, als wenn der gleiche Gegenstand ohne Verpackung übergeben wird[1].
Kaufen wir für uns selbst Produkte wie Kleidung und Schuhe oder die bereits erwähnten elektronischen Geräte, die selbstverständlich nicht als Geschenk eingepackt sind, so erwarten wir doch, dass die Verpackung der Ästhetik und dem Design des Produkts entspricht, und zwar selbst im Fall von Kaffeekapseln! Bummeln wir mit der Tasche eines bekannten Modegeschäfts oder dem Logo einer berühmten Kaffeekapselmarke durch die Stadt, signalisieren wir Bekannten und Passanten unseren guten Geschmack und unsere (Kauf-)Entscheidungen.
Geschenke verpacken ist eine wahre Kunst
In der japanischen Kultur steht das Wort tsutsumi (つつみ) für die „Kunst des Einpackens“. Dabei geht es im Gegensatz zum Westen nicht darum, mittels bunter Farben die Aufmerksamkeit auf den Inhalt zu lenken, sondern „den Gegenstand mit schlichten, eleganten Materialien zu schützen“. Wer jemals in Japan ein Produkt gekauft hat, und sei es nur für wenige Hundert Yen, weiß, mit welcher Sorgfalt, mit welch’ raschen und geschickten Gesten das Paket gepackt wird; selbst Speisen aus dem Take‑away präsentieren sich in einer tadellosen Verpackung. „Tsutsumi hängt mit dem ästhetischen Vergnügen zusammen, eine Verpackung mit Muße zu betrachten, ohne den Drang, sie zu eilig aufzureißen, um zum Inhalt vorzudringen“[2].In der Vergangenheit wurden für feierliche Anlässe „tsutsumi“ zum Selbstzweck geschaffen, das heißt die Gegenstände blieben eingepackt und die Verpackung wurde nie geöffnet. Dieser Brauch steht in der Tradition des Shintoismus: In der Shintō-Religion werden den Göttern Opfergaben wie Reis, Früchte, getrockneter Fisch dargebracht, die in Bambusblätter eingewickelt oder in irdenen Gefäßen enthalten sind.
E-Commerce: Neue Regeln, neue Verpackung
In Zeiten des digitalen Handels geht ein Großteil der klassischen physischen Erfahrung, d. h. der Kontakt mit dem Produkt und seiner Verpackung (wenn uns beispielsweise eine Verkäuferin auffordert, die Stoffqualität zu fühlen oder den Komfort eines Schuhs am eigenen Fuß zu erleben) unweigerlich verloren, ebenso die soziale Komponente und der Veblen-Effekt, bei dem auf dem Weg vom Geschäft nach Hause die zur Schau gestellte Verpackung vom prestigeträchtigen Einkauf erzählt.
Dieses Erlebnis wird durch das „Unboxing“ auf andere Weise nachgeholt. Das erstandene Objekt, das der Käufer bis dahin nur auf einem Bildschirm gesehen hat, ist endlich bei der Hand und wird der Verpackung entnommen, die insbesondere bei bestimmten Gütern oft mit viel Sorgfalt hergestellt und bis ins kleinste Detail ausgetüftelt wurde, auch um die anonyme Umverpackung des Paketzustellers wettzumachen. So werden Kauferlebnis und ‑vergnügen verlängert, die bis dahin nur aus der Internetsuche, einem Klick und einigen Tagen des Wartens bestanden. Die identitätsstiftende und demonstrative Funktion des Konsums wird dadurch ersetzt und neu belebt, dass das Öffnen der Verpackung gezeigt und geteilt wird.Soweit die Elemente, die in der bisherigen Tradition stehen, auch wenn diese zwangsläufig neu definiert werden musste. Trends wie dieser weisen aber auch auf bedeutende, tiefgreifende Veränderungen hin.
„Serviervorschlag“ – mit diesem Hinweis sichern sich Lebensmittelhersteller in der Regel ab: So schön wie auf der Verpackung abgebildet wird das vorgegarte Risotto oder die Instant-Suppe nie.
Auch beim Einkauf in Möbelgeschäften wie IKEA ist es ähnlich: Der befriedigendste Teil ist häufig der Weg durch das Geschäft, in dem die Möbel aufgebaut und sorgsam arrangiert sind. Nach Hause kommen wir dann mit einer Reihe von Kartons, die sich nur durch geduldige Montage in den Bücherschrank verwandeln, den wir im Geschäft gesehen haben.
Bei den Paketen, die uns nach einer Online-Bestellung geliefert werden, übernimmt hingegen der Inhalt den schönsten Part: Er lässt sich anfassen, durch sein Gewicht erspüren, kurz gesagt es ist ein Gegenstand, der viel erlebbarer ist, als das, was wir während des Kaufs auf dem Bildschirm gesehen haben.
Technik und Gadgets: Der Unboxing-Trend
Der Schriftsteller und Zukunftsforscher Bruce Sterling beschreibt in seinem Buch Shaping things (2005) die Geschichte der Zivilisation als Abfolge technologieorientierter Kulturen, sogenannter technocultures. Handgemachtes prägt die Ära der Sammler und Jäger, später folgt das Maschinenzeitalter und schließlich die product technoculture, das Zeitalter der Massenproduktion und des Massenkonsums genormter Produkte – das berühmte Automobil, das Henry Ford den Amerikanern versprach: „Jeder Kunde kann ein Auto (Ford T) in jeder gewünschten Farbe bekommen, solange es schwarz ist“.
Heute, so Sterling, existiert neben der „product technoculture“ eine zweite Kultur: Die der Gadgets (technischen Spielereien). Multifunktionale Objekte, die im Unterschied zu klassischen Produkten eine kontinuierliche Interaktion mit dem User und den Netzdiensten verlangen. Das beste Beispiel dafür? Natürlich das Smartphone.Welche Produkte bekommen wir denn nun in aufwändigen Verpackungen nach Hause geliefert? Es handelt sich um Zwitter: Zum Teil sind es noch wirkliche Produkte, aber immer häufiger Gadgets, für deren vollumfängliche Nutzung wir uns mit Onlinediensten verbinden können und müssen (erneut sei an die Kaffeekapselmaschine erinnert) und über die wir uns vor und nach dem Kauf mit anderen Usern austauschen.
Das Phänomen des „Unboxing“ zeigt unter anderem diese zwitterhafte Phase des Konsums auf und hält sie fest. Es transportiert uns von den bekannten Produkten zu den neuen Gadgets, wobei wir verschiedene Kauferlebnisse kombinieren, differenzieren und teilen können.
Massimiano Bucchi (Ph.D., Politik- und Sozialwissenschaften, European University Institute, 1997) ist ordentlicher Professor für Soziologie – Wissenschaft und Kommunikation – Wissenschaft und Technik der Universität Trient und war als Gastprofessor in Asien, Europa, Nordamerika und Ozeanien tätig. Er ist Autor von rund zehn Büchern, die in mehr als zwanzig Ländern veröffentlicht wurden sowie von wissenschaftlichen Artikeln, die in internationalen Zeitschriften wie „Nature and Science“ erschienen. Zu seinen neuesten Veröffentlichungen zählen die Bücher Per un pugno di idee. Storie di innovazioni che hanno cambiato la nostra vita (Bompiani, 2016, drei Auflagen) und Come vincere un Nobel. L’immagine pubblica della scienza e il suo premio più famoso (Einaudi, 2017). Er hat zahlreiche Ausgaben der Jahrbuchserie „Annuario Scienza, Tecnologia e Società“ (Il Mulino) konzipiert und herausgegeben. Überdies verfasst er Artikel zu wissenschaftlichen und technischen Themen für diverse Tageszeitungen (Repubblica, La Stampa) und arbeitet an der Fernsehsendung Superquark unter Leitung von Piero Angela (Raiuno) mit. Er leitet die internationale Zeitschrift Public Understanding of Science, die bei SAGE Publications erscheint.
[1] Howard, D. (1992). Gift-Wrapping Effects on Product Attitudes: A Mood-Biasing Explanation. Journal of Consumer Psychology, 1 (3), 197–223
[2] L. Canovi, „Tsutsumi: l’arte giapponese di impacchettare le cose“, https://www.perinijournal.it/Items/it-IT/Articoli/PJL-28/TSUTSUMI-larte-giapponese-dellimpacchettare-le-cose